Gastkommentar von Markus Häring in der Neuen Zürcher Zeitung vom 30. 3. 2016
Wind- und Solarstrom sind auf dem Wachstumspfad. Wo sie genügend subventioniert sind, stellen sie bereits einen substanziellen Anteil der Stromversorgung. Ideologen einer vollständig auf Sonne und Wind basierten Energiezukunft streiten sogar die Notwendigkeit von Bandlast-Kraftwerken ab. In Zukunft könne das Stromnetz alleine mit erneuerbaren Quellen stabil gehalten werden: Wind und Sonne lieferten, wenn es gehe; die Tages- und saisonalen Lücken würden mit Strom aus Speicherseen und Batterien ausgeglichen. Allfällige Versorgungslücken würden mit einer intelligenten Steuerung des Bedarfs vermieden – und überhaupt werde durch Effizienzsteigerung der Strombedarf gar nicht weiter zunehmen. Die Entwicklung aber läuft anders: Erstens haben rund zwei Milliarden Menschen auf dieser Erde bis heute keinen Zugang zu einem Stromnetz – und wie viele an einem unzuverlässigen Netz hängen, weiss niemand. Aber alle möchten gerne unseren Wohlstand erreichen. Wohlstandswachstum ist nur mit einem höheren Energieverbrauch zu erreichen. Zusammen mit dem Bevölkerungswachstum wird sich der Energiebedarf der Welt bis Ende des Jahrhunderts also verdoppeln.
Dieser Bedarf wird mit grosser Sicherheit mit den billigsten verfügbaren Ressourcen gedeckt. Deutschland zeigt vor, welches die billigste Ressource dort ist: Braunkohle. Die missratene deutsche Energiewende ist der lebhafte Beweis, dass sich auch mit Planwirtschaft der Markt nicht ausschalten lässt. Sonne und Wind werden weltweit einen wichtigen Beitrag leisten, aber keinen dominierenden. Bandlast-Kraftwerke werden auch in Zukunft das Rückgrat jedes zuverlässigen Stromnetzes bleiben. Nicht einmal Deutschland wird sich auf die Dauer eine Energieversorgung mit parallelen Systemen, die sich wechselseitig ablösen, leisten können. Irgendwie wird übersehen, dass wir in der Schweiz eine beinahe ideal ausgewogene Stromversorgung haben. Da wären zunächst die Laufwasser- und Kernkraftwerke, die zuverlässig Bandlast liefern, und dann die Speicherkraftwerke, welche die Bedarfsspitzen decken (und nicht etwa Versorgungslücken). Durch den Ausstieg aus der Kernenergie wird dieses System auf unverantwortliche Weise aus dem Gleichgewicht gebracht und die Versorgungssicherheit der Zukunft fahrlässig infrage gestellt. Abgesehen davon ist es vermutlich das CO2-ärmste Stromnetz, das möglich ist. Schon aufgrund der ehrgeizigen Klimaziele des Bundes ist der Drang nach einem Umbau unverständlich. Intelligente Steuerungen werden den Bedarf in den Haushalten etwas glätten können. Auch technische Entwicklungen und Effizienzsteigerungen gehen in Richtung eines ausgeglicheneren Bedarfs. Das spricht aber für mehr Bandlast-Kapazität, nicht etwa für weniger.
Eine Elektrifizierung der Mobilität wird stattfinden. Das Laden von Fahrzeugbatterien wird auch in Zukunft deutlich länger dauern als das Füllen eines Benzintanks. Geladen werden die Fahrzeuge deshalb in Stillstandszeiten, das ist vornehmlich nachts. Da entsteht ein ganz neuer Bedarf an Nachtstrom. Ein gleichfalls zunehmender Strombedarf ist bei den Wärmepumpen zu orten. Dieser wird sich auf die kalten Jahreszeiten konzentrieren, hingegen keine grossen Tagesspitzen generieren. Im Sommer werden dafür Kühlsysteme mehr Strom benötigen (dies allerdings mit Tagesspitzen, die mit Solarstrom einigermassen synchron laufen). Und schliesslich wäre da noch die vierte industrielle Revolution: Wenn wir in diesem Land noch eine produzierende Industrie erhalten wollen, muss sie aus Effizienzgründen immer mehr automatisiert werden. Roboter haben keinen Achtstundentag, sie werden rund um die Uhr laufen. Dasselbe gilt für sämtliche IT-Systeme, die rund um die Uhr Strom benötigen. Der Strombedarf wird also eher zu- als abnehmen. Und der Bedarf wird wahrscheinlich ausgeglichener sein als bisher. Es leuchtet deshalb überhaupt nicht ein, weshalb man mit solchen Perspektiven auf zuverlässige Bandlast-Kraftwerke verzichten will.