publiziert in der Basler Zeitung vom 27. April 2018
Die Erdgeschichte lässt sich auf einer Strecke von 46 Kilometern Länge abwickeln, wobei jeder Millimeter hundert Jahren entspricht. Das ist ein Weg auf der A 2 von Rothrist bis Basel. Um für den letzten Streckenabschnitt präziser zu sein, eine Strecke bis ins Rathaus hinein. Während der ersten vier Milliarden Jahre, das wäre eine Fahrt von Rothrist bis etwa zum St.-Jakobs-Park, entwickelte sich das Leben langsam und beschränkte sich auf wassergebundene Einzeller und erste primitive Mehrzeller. Dann explodierte das Leben förmlich. Die Grosszahl aller Pflanzen- und Tierstämme entstand vor rund 500 Millionen Jahren. Zeitgleich stieg der Sauerstoffanteil in der Atmosphäre auf ungefähr den heutigen Stand und mit der voll aufblühenden Photosynthese der Pflanzen sank der CO2-Gehalt auf heutige Verhältnisse. Die heutigen Kohlevorkommen sind ein kleines Überbleibsel der damaligen Ablagerungen. Zuvor war die CO2-Konzentration der Atmosphäre um ein Vielfaches höher. Das Klima konnte nicht mit dem heutigen verglichen werden. Dieser Blütephase folgten langandauernde, weltumspannende Eiszeiten.
Die ersten Säugetiere entwickelten sich auf den letzten drei Kilometern der Strecke, einer weitgehend eisfreien Zeit. Die Dinosaurier blieben 600 Meter vor dem Ziel auf der Strecke. Die heutige relative Kaltzeit, die sich durch vereiste Pole charakterisiert, begann erst etwa 200 Meter vor dem Ziel. Die ersten Urmenschen erschienen ungefähr dreissig Meter vor dem Rathaus, also bereits auf dem Marktplatz. Die bekannten Eiszeiten, die unsere Landschaften formten, fanden auf den letzten zehn Metern statt.
Der moderne Mensch erschien erst auf den letzten zwei Metern, bereits im Rathaus. Die Hochkulturen der Sumerer und Ägypter entwickelten sich auf den letzten fünf Zentimetern und unsere Zeitrechnung umfasst die letzten zwei Zentimeter. Das sind die realen Grössenverhältnisse. Um beim gleichen Massstab zu bleiben, begann die Industrialisierung auf den letzten drei Millimetern. Die dadurch ermöglichte Bevölkerungsexplosion von weniger als einer Milliarde auf sieben Milliarden Menschen fand auf den letzten zwei Millimetern statt. Dass dies eine beispiellose Signatur in der Umwelt hinterlässt, mag nicht erstaunen.
CO2-Emissionen und die Konzentrationszunahme in der Atmosphäre sind nur Symptome. Wenn man in Anbetracht dieser Massstäbe das Wort beispiellos in den Mund nimmt, stimmt das, bedeutet aber, dass man einfach kein vergleichbares Beispiel kennt. Unser Blick in die Vergangenheit verliert sehr schnell an Sehschärfe. Es ist nicht möglich, Ereignisse, die sich in zehn Kilometer Distanz, auf einem Millimeter abspielen, zu erkennen. Wir wissen beim besten Willen nicht, was sich in der Vergangenheit alles abgespielt hat. Wir wissen nur, dass sich das Leben auf der Erde laufend weiterentwickelt hat. Das heisst, dass bei allen Naturereignissen wie Eiszeiten, unzähligen Vulkanausbrüchen und Meteoriteneinschlägen die belebte Natur sich nicht nur behaupten konnte, sondern das System Erde massgebend mitbestimmt. Sie wird auch das Spontanereignis Mensch überleben.
Ich bitte, das nun nicht verharmlosend zu verstehen. Ich möchte damit nur unsere rein anthropozentrische Sicht stören. Mit dem Grössenvergleich will ich den belastenden Einfluss des Menschen auf die Natur überhaupt nicht schönreden. Wir müssen unsere Verantwortung gegenüber der Umwelt selbstverständlich wahrnehmen, schon allein, weil wir auf Gedeih und Verderb darauf angewiesen sind. Doch der Grössenvergleich soll auch relativieren und aufzeigen, dass es sich beim System Erde um etwas sehr viel Grösseres handelt, mit dem wir respektvoll umgehen müssen, aber auch nicht glauben dürfen, dieses System steuern zu können.